7. September 2022 ARMIN ON BIKE

Energica Experia | Erstkontakt mit der elektrischen Reiseenduro in den Dolomiten

Armin on Energica Experia | Photo: Energica Motor Company

Wolkenstein in Gröden | Südtirol – im Rahmen der „Dolomiti Experience“ erhielten internationale Journalisten und Blogger erstmals die Gelegenheit, die rein elektrisch angetriebene Reiseenduro Energica Experia zu testen. Ich war bei der Fahrpräsentation in den italienischen Alpen dabei und darf Euch hier von meinen ersten Eindrücken berichten…

Ende Mai im Rahmen des MotoE World Cup-Rennens in Mugello der Weltöffentlichkeit präsentiert, standen die Premium-Elektromotorräder Energica Experia einige Wochen später für einen ersten Test in den Dolomiten zur Verfügung. Noch bei gutem Wetter mit meinem eigenen Motorrad angereist, verzögerte sich der für den frühen Nachmittag angesetzte Test aufgrund von Regen ein wenig. Dies bot mir die Gelegenheit, einen ersten Blick auf die neue E-Reiseenduro zu werfen. Die Verkleidung mit dem für Energica typischen Doppelscheinwerfer erinnert mit dem markanten Schnabel ein wenig an einen deutschen und italienischen Mitbewerber, die jedoch bis dato ausschließlich im Verbrenner-Segment zu finden sind. Auch dem restlichen, äußerst gelungenem Erscheinungsbild ist nicht anzusehen, dass es sich hier um ein Elektromotorrad handelt. Einzig und allein die orangen Starkstromkabel hinter dem Gitterrohrrahmen und die Form des Motors geben einen Hinweis auf die eingesetzte Energiequelle.

ELEKTROMOTORRAD-PIONIER

Die im italienischen Modena ansässige Energica Motor Company ist aus der CRP-Gruppe hervorgegangen, die seit den 70er-Jahren als Zulieferer für die Formel 1 und die Automobilindustrie bekannt ist. Mitten im legendären Motor Valley, wo auch so klingende Namen wie Ducati, Ferrari und Lamborghini beheimatet sind, werden seit 2010 High Performance-Elektromotorräder gebaut. Das umfangreiche Know-how wird auch im Rennsport eingesetzt und ausgebaut. Seit dem Start der Serie im Jahr 2019 lieferte Energica die Einheitsmotorräder für den FIM MotoE World Cup. Um am globalen Markt noch effizienter Fuß zu fassen, wurde im vergangenen Jahr eine Partnerschaft mit dem amerikanischen Investor Ideanomics eingegangen. Die vom Unternehmen gebündelten Ressourcen dienen dazu, kommerzielle Elektrofahrzeuge so schnell und effizient wie möglich auf den Markt zu bringen. Ideanomics hält im Moment 70 Prozent von Energica und hat sich zum Ziel gesetzt, bis Ende des Jahres die Anzahl der Händler in den USA zu verdoppeln.

NEUENTWICKELTE REISEENDURO EXPERIA

Das Modell Energica Experia ist das vierte Modell des italienischen Herstellers, das erste im Segment der Reiseenduros und auch das erste Elektro-Adventure Bike am Markt. Die bisherigen Modelle Ego, Eva Ribelle und EsseEsse9 sind von der Leistungsentfaltung her mit Verbrennern im Supersport-Segment vergleichbar (siehe dazu auch meinen Testbericht von der Eva Ribelle…). Entspanntes Reisen stellt jedoch andere Anforderungen an ein Motorrad. Hier sind Fahrbarkeit und Komfort die wesentlichen Faktoren. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, hat Engerica mit der Experia ein vollkommen neues Motorrad entwickelt. Mit dem Zusatzbonus der emissionsfreien Fortbewegung hinsichtlich von Abgasen und Lärm. Man schont damit die Umwelt und auch sich selbst. Von der Plattform mit neuem Rahmenkonzept und Motor bis hin zur Batterie sind alle Komponenten neu. Bei jedem Entwicklungsschritt stand dabei die Minimierung des Gewichts und Optimierung des Fahrverhaltens im Vordergrund.

HIGH-TECH PLATTFORM

Die neue Plattform „Energica Green Tourer” setzt beim Antrieb auf einen auf Effizienz ausgelegten „Permanentmagnet-unterstützten Synchron-Reluktanzmotor“ (PMASynRM). Dieser Motor ist im Gegensatz zu den bisher in Energica-Modellen eingesetzten Permanentmagnet Synchronmotoren (PMSM), die mehr auf Höchstleistung abzielen, um 10 Kilogramm leichter und kleiner. Damit kann dieser tiefer im Rahmen als bisher eingebaut werden. Die geringere Anzahl an Magneten macht den wassergekühlten Motor kostengünstiger und umweltfreundlicher, da weniger seltene Erden für den Bau erforderlich sind. Durch die schmälere Bauform des Stahl-Gitterrohrrahmen und den Aluminium-Heckrahmen konnte weiteres Gewicht eingespart werden.

Die Dauerleistung von 60 kW sowie die Spitzenleistung von 75 kW des EMCE-Motors mögen im ersten Moment nicht atemberaubend klingen. Da beim Elektroantrieb jedoch andere Gesetzmäßigkeiten gelten und die 115 Newtonmeter Drehmoment bereits ab der ersten Motorumdrehung zur Verfügung stehen, zieht der Green Tourer ordentlich ab und erreicht bereits nach 3,5 Sekunden die 100 km/h-Marke. Auch die elektronisch abgeregelte Höchstgeschwindigkeit von 180 km/h ist für ein Reisemotorrad mehr als ausreichend. Verzögert wird mit einer Brembo-Bremsanalage, die mit Bosch 9.3 MP Kurven-ABS ausgestattet ist. Die Vierkolben-Bremssättel auf zwei 330 Millimeter-Scheiben vorne packen mächtig zu und sind mit einem Finger optimal dosierbar. Hinten verzögert ein Zweikolben-Bremssattel auf einer 240 Millimeter-Bremsscheibe. Die Anlage zählt zum Feinsten, was derzeit am Bremsensektor angeboten wird.

GRÖSSERER AKKU, SCHNELLERES LADEN, ENERGIERÜCKGEWINNUNG

Der Akku der Experia verfügt mit 22,5 kWh brutto (19,6 kWh netto) über die größte Batteriekapazität aller derzeit am Markt befindlichen Elektromotorräder. Auch die maximale Ladeleistung von 24 kW ist rekordverdächtig. Damit kann der Akku an einer CSS-Gleichstrom-Ladestation in 40 Minuten von 0-80 Prozent aufgeladen werden. Die Ladebuchse ist praktisch an der Seite des Motorrads angebracht und daher ohne Hochklappen der Sitzbank erreichbar. Mit Wechselstrom kann unterwegs oder zu Hause mit Level 1 oder 2 aufgeladen werden. Damit bietet Energica als einziger Hersteller alle drei Ladevarianten bei einem E-Motorrad an.

Im Schiebebetrieb wird durch Rekuperation – der E-Motor dient dabei als Generator – Energie in den Akku zurückgespeist. Die Intensität der einsetzenden Rückgewinnung, die sich wie die Motorbremse eines Verbrenners anfühlt, kann in drei Stufen eingestellt oder ganz abgeschaltet werden. Mein Testmotorrad war in der höchsten Stufe. Sobald ich vom „Strom“ ging, bemerkte ich eine deutlich spürbare Bremswirkung. Durch vorausschauende Fahrweise konnte ich die meisten Kurven bergab von den Pässen ohne die Zuhilfenahme der Brembos bewältigen und dabei auch noch Energie zurückgewinnen.

KOMFORTABLES REISEN UND MEHR

Gleich beim Draufsetzen fiel mir die angenehm aufrechte Sitzposition auf. Die Höhe ist mit 847 Millimetern moderat und für meine 178 Zentimeter Körpergröße optimal. Die Polsterung ist straff und dennoch komfortabel ausgelegt. Ein kleiner Höcker am Rücksitz verhindert, dass der Sozius beim Verzögern nach vorne rutscht. Die aerodynamische Verkleidung bietet sehr guten Wind- und Regenschutz. Ich fühlte mich sofort gut ins Motorrad integriert. Nachdem ich mit Hilfe des Parkassistenten rückwärts leicht bergauf ausgeparkt hatte, ging es auch schon los. Die elektrische Schiebehilfe funktioniert vorwärts und rückwärts, praktisches Feature bei einem 260 Kilogramm-Motorrad. Erst einmal in Bewegung fällt das Gewicht gar nicht mehr auf. Im Gegenteil, die Experia ist sehr agil und fühlt sich leichtfüßig an. Sie nimmt selbst die engsten Kehren in den Dolomiten bereitwillig in Angriff und lenkt dabei bereitwillig ein. Der stufenlose Elektroantrieb mit der für einen Tourer angepassten Übersetzung macht das Kurvenfahren in den Alpen so einfach wie nie. Weder Kuppeln noch Schalten stören den Rhythmus in engen Kehren. Aufgrund der optimierten Gewichtsverteilung ist auch die Kopflastigkeit der früheren Modelle kein Thema mehr.

Das Fahrwerk von ZF Sachs mit jeweils 150 Millimeter Federweg vorne und hinten ist angenehm straff ausgelegt und meisterte unbeeindruckt auch eine kurze holprige Schotterpassage in einem Baustellenbereich. Daher steht gelegentlichen moderaten Offroad-Passagen nichts im Wege. Die Pirelli Scorpion Trail II-Reifen sind da eine gute Wahl für einen breiten Einsatzbereich. Mehrere Fahrmodi und die einstellbare Traktionskontrolle bieten dazu die jeweils richtige Abstimmung. Das neue, gut ablesbare TFT-Farbdisplay bietet alle wichtigen Informationen auf einen Blick. Damit Smartphone und Navigationssystem auch auf längeren Fahrten der Strom nicht ausgeht, verfügt die Experia über zwei USB-Anschlüsse links neben dem Display und zwei weitere in dem großen, abschließbaren Staufach über dem Akku.

DIE SELLA RONDA BITTET ZUM TEST

Reichweite, Reichweite, Reichweite, ist das immer wieder heiß diskutierte Thema bei Elektrofahrzeugen. Dieses spielt natürlich im Bezug aufs Reisen eine ganz spezielle Rolle. Während einer Testfahrt auf der berühmten Sellarunde, konnte ich einen ersten Eindruck bezüglich der erwartbaren Tourenreichweite gewinnen. Nach 57 Kilometern notierte ich einen Verbrauch von 23 Prozent der verfügbaren Akkukapazität von 19,6 kWh. Auf der Strecke über vier Dolomitenpässe mit insgesamt 1.700 Höhenmetern ein sehr akzeptabler Wert, der hochgerechnet eine Gesamtreichweite von rund 250 Kilometern ergibt. Der Fahrstil auf der Testrunde war zudem ambitioniert und spaßorientiert und daher keinesfalls eine Sparfahrt. Dies unterstreicht zusätzlich das gute Ergebnis. Die von Energica angegebene kombinierte Reichweite von 256 Kilometern (WMTC: 222 Kilometer) liegt daher in einem sehr realistischen Bereich.

ARMIN ELECTRIC CONCLUSIO

Die Energica Experia hat im ersten kurzen Test gezeigt, dass sie das Zeug zu einer ernst zu nehmenden Reiseenduro hat, die aufgrund ihrer Wendigkeit auch in der Stadt gut einsetzbar ist. Auch die zu erwartende Reichweite in den Bergen ist vielversprechend. Ein ausführlicherer Test wird zeigen, ob sich dieser erste gute Eindruck bestätigen wird. Aufgrund der Leistungsreduktion gegenüber den bisherigen Modellen sowie der nicht allzu extremen Auslegung des Adventure-Gedankens ist den Italienern eine sehr angenehm fahrbarere E-Reiseenduro mit breitem Einsatzsepektrum gelungen.

Sie lädt zum nahezu lautlosen, entspannten Dahingleiten ein und verfügt im Bedarfsfall über mehr als ausreichend Leistung. Bei der immer wichtiger werdenden Reduktion von Abgasen und Straßensperren wegen der Lärmbelastung das richtige Motorrad zur richtigen Zeit. Die Reisetauglichkeit hängt aber nicht nur von dem Fahrzeug selbst ab, sondern auch von der ausreichenden Verfügbarkeit von Schnelllademöglichkeiten. Hier wird es vor allem im Revier eines Adventure Bikes noch eine Zeit dauern, bis eine zufriedenstellende Abdeckung gegeben sein wird.

Die Energica Experia kann seit dem 1. Juni bei allen Energica-Händlern weltweit bestellt werden. In Österreich beträgt der Preis für die Launch Edition der 30.708 Euro (abzüglich E-Mobilitätsförderung von 1.200 Euro). In diesem Preis sind reisetaugliche Hartschalenkoffer und ein Topcase mit insgesamt 112 Litern Stauraum enthalten. Damit auch Optik und Komfort stimmt, kommen dazu noch schwarze Ergal-Lenkerenden und Schrauben, Heizgriffe, sowie Alufelgen mit einem rotem Eyecatcher. Die ersten Modelle befinden sich bereits in Produktion und sollen noch diesen Herbst ausgeliefert werden, damit die elektrische Reiselust von einigen Kunden bereits heuer gestillt werden kann.

Text und Fotos: Armin Hoyer – arminelectric.com
Fahrfotos von Armin: Energica Motor Company

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